4.4 Ausblicke ← Die Sprache der Erzählung

4.4 Ausblicke (Konjunktiv)

In Erzählungen im Präteritum

Es kommt vor, dass in Erzählungen berichtet wird, was aus der aktuellen Situation heraus in der Zukunft erwartet wird.  Dafür wird dann der Konjunktiv verwendet:

Tomas kam in sein Büro und goss sich sofort Kaffee in seinen Pott. In wenigen Minuten würde Marion hereinkommen, und dann würde er ihr sofort die Akten geben.

Mit dieser Form wird erzählt, dass eine sehr konkrete Erwartung an die Zukunft im Raum steht.

Man kann durchaus der Ansicht sein, dass es sich hier gar nicht um einen Konjunktiv handelt, sondern lediglich um das Präteritum des Verbs werden.  Diese Frage ist für das Schreiben von Geschichten aber ohne weiteren Belang.

Die ›feinere‹ Variante des Konjunktivs ohne würde (hereinkäme statt würde … hereinkommen) bleibt dem Potentialis vorbehalten (›könnte passieren‹):

Tomas kam in sein Büro und goss sich sofort Kaffee in seinen Pott. Falls in wenigen Minuten Marion hereinkäme, würde er ihr sofort die Akten geben. Aber wahrscheinlicher war, dass er sie ihr würde bringen müssen.

Der Satzteil nach dem Komma (würde … geben) und der letzte Satz sind weiterhin konkrete Ausblicke, daher bleibt es dort bei der Verwendung von würde.

Man liest aber auch die ›feinere‹ Variante des Konjunktivs ohne würde als Ausblick:  In wenigen Minuten käme Marion herein, und dann gäbe er ihr sofort die Akten.

Klar falsch ist hier keine Version, und schlussendlich ist es eine Stilfrage, die auch mit dem Genre abgewogen werden sollte.

Der Irrealis (›hätte passiert sein können‹) kann nicht in Ausblicken vorkommen, da er Dinge überdenkt, die schon bekannterweise nicht geschehen oder nicht der Fall sind – hier nur der Vollständigkeit halber:

Tomas kam in sein Büro und goss sich sofort Kaffee in seinen Pott. Wäre Marion jetzt hereingekommen, hätte er ihr sofort die Akten gegeben. Aber offensichtlich würde er sie ihr bringen müssen.

In Erzählungen im Präsens

Hier kann das einfache Futur benutzt werden:

Tomas kommt in sein Büro und gießt sich sofort Kaffee in seinen Pott. In wenigen Minuten wird Marion hereinkommen, und dann wird er ihr sofort die Akten geben.

Aber auch im Präsens findet sich bisweilen der Konjunktiv für Ausblicke (s. o. bei Präteritum).  Klar falsch ist wieder keine Version, wieder ist es eine Stilfrage (s. o.).

Einhaltung der Perspektive

Auch bei Ausblicken ist zu beachten, dass die Perspektive der Erzählung (siehe 4.2 Erzählperspektive) nicht verlassen werden darf.  Erzählt man in der personalen Perspektive, sollten nur Erwartungen genannt werden, die die Figur hat, aus deren Perspektive man erzählt.  In der neutralen Perspektive kann man ausschließlich Ausblicke erzählen, die unabhängig von den Figuren sind:

Tomas und Marion warteten an der Bushaltestelle. Der Bus würde bald kommen, doch nichts würde Tomas dazu bringen, dann einzusteigen.

Der erste Teil des Ausblicks (Der Bus würde bald kommen) ist ein Ausblick, den auch ein neutraler Erzähler machen könnte, doch der zweite Teil (… nichts würde Tomas dazu bringen, dann einzusteigen) ist nicht mehr neutral, sondern beschreibt die Absicht Tomas’ und ist damit eine personale Perspektive.


In der personalen Perspektive kann man nur Ausblicke formulieren, die die Figur hat, deren Perspektive man erzählt:

»Lass mich in Ruhe!«, sagte Tomas. Er würde die aufdringliche Marion nie ins Vertrauen ziehen!

»Ich will doch nur wissen, was mit der Firma los ist!« Mit etwas mehr Überredungskünsten würde Marion ihn schon noch überzeugen können, ihr alles zu erzählen.

Die beiden hier genannten Ausblicke sind die Erwartungen verschiedener Personen.  Damit findet ein Perspektivwechsel statt.

So etwas ist ein Kennzeichen eines auktorialen Erzählers.  In der personalen Perspektive ist das nicht möglich, da dort so ein Wechsel nicht spontan in einer Szene erfolgen kann.


Nächster Abschnitt:  4.5 Anreden (Duzen, Siezen, Ihrzen)

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